Futurist und Autor Joël Luc Cachelin über die Digitalisierung

Stämpfli Kommunikation
Stämpfli Kommunikation
3 min readJun 17, 2020

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Joël Luc Cachelin hat im Stämpfli Verlag vier Bücher zum Thema der digitalen Zukunft herausgegeben. Auf das «Schattenzeitalter» folgten die «Offliner», das «Update» unseres gesellschaftlichen Betriebssystems sowie zuletzt der «Internetgott». In diesem Blogpost reagiert er auf drei Thesen, die wir ihm vorgelegt haben.

These 1
«Je mehr das Internet unseren Alltag prägt, desto mehr Widerstand regt sich» (Joël Luc Cachelin, «Offliner»). Wenn die Digitalisierung allmächtig wird, werden also gewisse Menschengruppen sich davon distanzieren oder sogar physischen Widerstand leisten.

COVID-19 dürfte zu einem Digitalisierungsbooster avancieren. Die Digitalisierung folgt einerseits dem Technologie-Push von Unternehmen, die neue Technologien und Angebote in den Markt drücken. Genauso folgt sie einem Pull der Kundinnen, Nutzerinnen und Bürgerinnen. In den letzten Wochen haben viele von uns erkannt, wie praktisch das Internet sein kann — um einzukaufen, Dinge zu erledigen oder einen Film zu schauen. Widerstand regt sich, wenn über unsere Köpfe hinweg entschieden wird, wenn wir keine Wahl mehr haben, wie digital wir leben wollen. Vor allem aber, wenn unsere Daten ohne unsere Einwilligung verkauft und weiterverarbeitet werden. Das könnte dann der Fall sein, wenn COVID-19 zur Verbreitung von allzu intelligenten Kameras, Drohnen, Apps und Lautsprechern führt. Die Ablehnung der Contact Tracing App zeigt, wie gross das digitale Misstrauen in der Schweiz ist.

Offliner von Joël Luc Cachelin
Offliner — Die Gegenkultur der Digitalisierung (ISBN 978–3–7272–1431–8)

These 2
Je stärker die Welt digitalisiert ist, desto mehr suchen Menschen nach physischen Kontakten mit anderen. Denn schlussendlich ist der Mensch ein soziales Wesen und kein Roboter.

Auch Roboter könnten in Zukunft Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion bieten. Die Streaming-Serie «Westworld» zeigt dies momentan sehr eindrücklich. Die Pflege im Alter ist möglicherweise der erste Ort, wo diese Visionen in die Realität und Gegenwart übersetzt werden können. Solche geselligen Roboter haben durchaus Vorteile — sie haben mehr Muskeln als menschliche Pflegekräfte, sie erinnern sich an alles, was wir ihnen jemals gesagt haben, und sie können sich jederzeit mit allen ihren Roboterkollegen rund um die Welt austauschen. Zum Beispiel beim Verschreiben von Medikamenten ist dies durchaus ein Vorteil. Die Frage ist aber, wie echt ihre Empathie ist und wie spontan sie sich auf Gedanken und Situationen einlassen können. Eine andere wichtige Gefahr ist die Zweiklassengesellschaft, in der nur noch Gutsituierte im Spital, in der Schule oder im Restaurant auf echte Menschen treffen.

These 3
Der Mensch ist ein haptisches Wesen. Digitale Lösungen und Geräte ersetzen nicht die Feinheiten eines Stoffes und die Struktur von Papier. Durch die Digitalisierung gewinnen Handwerk, Kochkunst und Drucksachen eine neue Bedeutung. Orte, an denen ich digital unerreichbar bin, werden zu Luxusoasen.

In der Coronazeit nutzten wir Videokonferenzen und telefonierten wieder häufig. Wir waren froh, weniger pendeln zu müssen, und erstaunt, wie effizient Sitzungen sein können. Doch in den letzten Monaten fehlten vielen von uns im Homeoffice die Nähe des Gesprächs an einem Tisch und die Wärme einer Umarmung. Nähe und Wärme bedingen also tatsächlich das Haptische. Nachdem wir den ganzen Tag vor einem Bildschirm verbracht hatten, erlebten wir, wie wohltuend das Gärtnern und das Kochen sind, wie sehr das Arbeiten mit den Händen unsere Gedanken ordnet und wie entspannend und gedankenfördernd die Momente sind, in denen wir nicht erreichbar sind. Stille ist wichtig, damit wir unsere Beziehungen reflektieren und innovativ sein können. Auf einem Spaziergang durch den Frühlingswald, beim Jäten des lästigen Unkrauts im Garten oder beim Streicheln des sonnengewärmten Katzenfells finden wir zur Ruhe und damit zu uns selbst.

Joël Luc Cachelin analysiert, strukturiert und kombiniert — als interdisziplinärer und multimedial tätiger Zeitreisender. Er ist 1981 in Bern geboren. Studium, Promotion und Weiterbildung in den Disziplinen Betriebswirtschaftslehre, Technologiemanagement, Statistik und Geschichte führten ihn an die Universitäten St. Gallen, Bern und Luzern sowie an die Hochschule für Wirtschaft Zürich. Er begleitet und beratet in Zukunftsfragen.

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